Anno 1800 im Test

Zurück in die Vergangenheit! Nach dem unter Fans etwas umstrittenen Ausflug in die Zukunft mit Anno 2070 und 2205, besinnt sich Entwickler Blue Byte der historischen Wurzeln der Aufbaustrategiespielreihe und verlagert das Spielgeschehen in das Zeitalter der industriellen Revolution. Statt Schiffen, die durchs Weltall düsen, gibt es wieder jene mit Segel oder dampfgetriebenem Schaufelrad, und statt Erde, Arktis und Mond werden erneut mehrere Inseln besiedelt. Die Rückkehr zu alten Tugenden bedeutet bei Anno 1800 aber auch gleichzeitig die Rückkehr zu alten Stärken. Das Ergebnis: Ein grandioses Aufbaustrategiespiel, welches sich mit seinem mittelalterlichen Vorgänger um den Genre-Thron duelliert.

Kaum eine andere Spielreihe verkörpert die Grundprinzipien der Aufbaustrategie so konsequent wie Anno: inselreiche Regionen erkunden, Siedlungen errichten, funktionierende Wirtschaftskreisläufe erschaffen und die immer steigenden Bedürfnisse der Bevölkerung befriedigen. Egal ob in der frühen Neuzeit, im Spätmittelalter oder in der Zukunft – diese grundlegenden Gameplay-Elemente blieben bei jedem Serienteil stets gleich. Auch Anno 1800 macht hier keine Ausnahme, verlagert das Spielgeschehen aber erstmalig in die Zeit der Industriellen Revolution. Die Kampagne wirft uns auch gleich in eine, für diese Epoche typische, Geschichte à la  „Der Graf von Monte Cristo“: Der Brief unserer Schwester Hannah ist der Anlass, gemeinsam mit meinem Freund Aarhant wieder zurück in die alte Heimatstadt zu reisen. Darin wird uns nämlich mitgeteilt, dass Vater des Hochverrats angeklagt und eingekerkert wurde. Leider kommen wir zu spät, denn der alte Herr ist bereits verstorben und der böswillige Onkel hat sich das Familienunternehmen unter den Nagel gerissen. Mit den letzten Ersparnissen erwerben wir also ein kleines Eiland und müssen dort quasi bei Null anfangen. Aber es gilt nicht nur, das Imperium wieder aufzubauen, sondern mehr und mehr offenbart sich auch die wahre Geschichte hinter dem Tod des Vaters.

Die Kampagne ist dabei in insgesamt vier Kapiteln unterteilt und für ein Aufbaustrategiespiel bemerkenswert aufwändig inszeniert. Die Dialoge werden zwar nur von vertonten Portraitbildern wiedergegeben, dafür sorgen teilweise spektakuläre Kamerafahrten über das Spielgeschehen der Karte für ein wirklich tolles Mittendrin-Gefühl. Leider endet die Geschichte ziemlich abrupt nach etwa 15 Stunden und hinterlässt dabei eine etwas fahlen Beigeschmack. So ist sie zwar als rudimentäres Tutorial ziemlich nützlich, erreicht aber nie die Qualität der Story-Kampagne von Anno 1404. Dafür kann das Spiel nach Abschluss der Geschichte beliebig lange weitergeführt werden.

Bevölkerungsschichten und Krieg

An den grundlegenden Elementen eines Aufbaustrategiespiels hat sich zunächst nicht viel geändert: Ihr errichtet Gebäude zur Rohstoffgewinnung, danach entsprechende Produktionsstätten, welche diese verarbeiten, und ein Lagerhaus sowie einen Markt, an dem die produzierten Güter aufbewahrt oder verkauft werden. So könnt ihr die Bedürfnisse eurer Bevölkerung nach bestimmten Waren befriedigen. Je weiter ihr eure Siedlung ausbaut, desto komplexer werden nicht nur die verschiedenen Wirtschaftskreisläufe, sondern auch die Ansprüche der Leute steigen. Eine der essentiellen Neuerungen von 1800 stellen dabei die fünf verschiedenen Bevölkerungsstufen dar, denn durch das Erfüllen von bestimmten Bedürfnissen könnt ihr eure Bewohner aufsteigen lassen. Bauern sind etwa schon zufrieden, wenn sie einfache Nahrungsmittel wie Fisch und Zugang zu einem Wirtshaus bekommen. Arbeiter wollen hingegen Wurst, Seife und eine Schule, bei den Handwerkern müssen es Fleischkonserven und eine Universität sein, Ingenieure brauchen Elektrizität und Investoren sind erst zufrieden, wenn sie genügend Champagner bekommen und ihr eine Bank errichtet, in der sie ihr Geld lagern können. Anders als in den vorangegangenen Serienteilen steigt aber nicht die gesamte Bevölkerung auf, sondern ihr bestimmt per Mausklick, welches Wohnhaus welcher Bevölkerungsstufe angehört. Das ist auch sehr wichtig, denn im späteren Spielverlauf werden weiterhin Bauern benötigt, die auf Feldern arbeiten sowie Handwerker, die bestimmte Rohstoffe verarbeiten. Weil man dabei ein ausgewogenes Gleichgewicht nicht aus den Augen verlieren darf, ist das nicht nur ein etwas realistischerer Ansatz, sondern vor allem auch ein spielerisch durchwegs sinnvolles und forderndes Feature.

Natürlich beschränkt sich der Städtebau aber nicht nur auf eine einzelne Insel. So könnt ihr etwa mit eurer maritimen Kriegsflotte, bestehend aus bis zu acht Schiffen, andere Siedlungen angreifen und nach einer siegreichen Schlacht annektieren. Die militärischen Auseinandersetzungen werden dabei, anders als im Vorgänger, nicht auf separaten Karten ausgetragen. Sobald die Hafenanlage einer Insel durch Kanonenbeschuss entsprechend beschädigt wurde, kapitulieren die Bewohner. Die Schlachten bestreitet man ausschließlich mit Schiffen; Soldaten der andere Landeinheiten gibt es in Anno 1800 keine. Je mehr Gebiete wir besiedelt haben und je mehr Handelsverträge wir mit anderen Fraktionen abschließen, desto wichtiger wird es, Handelsrouten einzurichten. Spätestens, wenn man im späteren Spielverlauf einen neuen Kontinent entdeckt, auf dem es Rohstoffe gibt, die nur dort abgebaut werden können, sollte man ein effektives Netz an Schiffsrouten aufgebaut haben.

Viel Neues

Abseits dieser großen Änderungen verfügt Anno 1800 über zahlreiche kleinere Neuerungen, die sich aber spielerisch doch deutlich auswirken: Expeditionen dienen etwa dazu, exotische Bilder und Artefakte für euren Zoo oder das Museum zu besorgen. Diese sind wiederum notwendig, um Touristen auf die Insel zu locken. Generell spielt hier auch insgesamt die Attraktivität unserer Siedlungen eine wichtige Rolle, denn in eine Industriestadt mit dicht gedrängten Fabriken werden sich nur wenige Besucher verirren. Gebäude wie das Rathaus oder die Handelskammer erhöhen die Produktivität von bestimmten Produktionsstätten im Einzugsgebiet und können dazu auch noch mit Items ausgerüstet werden. Im späteren Spielverlauf kommt auch noch die Ressource Einfluss hinzu. Diese wird von Investoren generiert und kann in sechs verschiedenen Bereichen ausgegeben werden. Bei Propaganda darf man etwa Artikel in Zeitungen veröffentlichen und damit die Bevölkerung steuern, oder man investiert in die Kultur und errichtet Monumentalbauten und Weltausstellungen. Vor allem im Endgame werde die zusätzlichen Optionen immer umfangreicher und sorgen für eine entsprechende Langzeitmotivation. Selbst nach 20 Spielstunden hat man immer noch nicht alles gesehen oder kann an der einen oder anderen Stellschraube drehen, um seine Siedlungen nicht vielleicht doch noch etwas effizienter zu machen.

Auch im Bereich Benutzerführung hat man sich indessen ebenfalls etwas Neues einfallen lassen: Mit dem „Blaupausen-Modus“ ist es nun möglich, eine Siedlung zu planen, ohne wertvolle Rohstoffe zu verschwenden. Ist der Modus aktiviert, werden alle Gebäude lediglich als geisterhafte Silhouetten platziert, wodurch dann der Platz für eure zukünftige Residenz oder Fabrik reserviert wird. Sobald ihr mit dem Layout zufrieden seid oder die fehlende Materialien gesammelt habt, könnt ihr dieses mittels einfachem Mausklick errichten lassen. Ansonsten wird im Bereich User-Interface gewohnt hohe Anno-Qualität geboten. Für jedes Problem wird entsprechendes Feedback gegeben und man weiß sofort, wie man es beheben kann. Lediglich die zahlreichen Textfenster, welche zum Teil die Menüs überlappen, wirken manchmal etwas störend.

Alles in allem ist die technische Umsetzung jedoch tadellos. Selbst auf altersschwachen Systemen läuft Anno 1800 flüssig – natürlich mit Abstrichen, was die Qualität der Grafik anbelangt. Trotzdem gibt es keinen Zweifel daran, dass wir es hier mit dem aktuell schönsten Aufbaustrategiespiel zu tun haben, das sich vor allem auch durch seine detaillierte Spielwelt und eine liebevoll animierte Bevölkerung auszeichnet. Selbst die ansonsten eher dürftigen KI-Gegner geben dieses Mal keinen größeren Anlass zur Kritik; sie verhalten sich stets plausibel und stellen bereits auf mittlerer Stufe eine entsprechende Herausforderung dar – selbst für erfahrene Spieler.

Mit Volldampf zurück, dafür episch

Mit der ein paar Wochen vor Release verlautbarten Ankündigung, nach The Division 2 werde auch Anno 1800 nur exklusiv im Epic Games Store angeboten, zog sich Ubisoft den Unmut der Fans zu. Bis zum Release war das Spiel zwar auch über Steam vorbestellbar, danach wurde der Bestellbutton dort aber entfernt. Wer Anno 1800 also jetzt noch digital erwerben will, der kann das nur noch auf Ubisofts hauseigener Vertriebsplattform Uplay oder im Epic Games Store tun. Der Publisher versichert aber, dass sich Käufer der Steam-Version keine Sorgen machen müssen, denn auch sie werden weiterhin mit Updates versorgt und der Mehrspielermodus soll ebenfalls nicht beeinträchtigt werden. Letzterer bietet übrigens eine Multiplayer-Variante für bis zu vier Spieler mit insgesamt sechs unterschiedlichen Siegbedingungen. Grundsätzlich gestaltet sich das Ganze wie ein herkömmliches Endlosspiel, bei dem zusätzlich um die Wette gesiedelt wird. Dank Speicherfunktion können die Partien aber auch jederzeit unterbrochen und zu einem späteren Zeitpunkt fortgesetzt werden. Die Spielersuche erfolgt indessen wie gewohnt via Uplay, und das hat in meinen Testpartien auch ganz gut funktioniert. Wie üblich ist der Mehrspielermodus aber in erster Linie eine nette Draufgabe, die mangels spezifischer Spielelemente kaum erwähnenswert ist. Zumindest ein kostenloser Koop-Modus wurde jedoch bereits angekündigt.

FAZIT

„Du Schatz, ich probiere nur noch schnell aus, ob die Installation von Anno 1800 funktioniert hat, und komme dann gleich zu dir ins Bett.“ Ein paar Stunden später, so gegen drei Uhr früh, bin ich am Überlegen, ob ich nicht noch diesen einen, kleinen Auftrag erledigen oder nun doch endlich schlafen gehen soll. Angesichts dieser kleinen Anekdote muss ich wohl nicht explizit sagen, dass auch der siebte Teil der Aufbaustrategiespielreihe nichts an seiner Faszination verloren hat. Dazu möchte ich aber auch gleich anmerken, dass ich spätestens nach der Open-Beta keinen Zweifel mehr an der Qualität von Anno 1800 hatte, und sich für mich eigentlich nur mehr die Frage stellte, ob es meinen Serienliebling Anno 1404 vom Thron stoßen würde. Nach knapp einer Woche Spielzeit traue ich mir hier noch kein endgültiges Fazit zu, denn auch wenn beide in Sachen Gameplay auf Augenhöhe sind, so gefällt mir das Mittelalter-Szenario dann doch einen Tick mehr als das Zeitalter der industriellen Revolution. Das kann man aber mit ruhigem Gewissen in die Kategorie „Geschmackssache“ einordnen, beruht die Tatsache doch in keinster Weise auf den spielerischen Qualitäten der beiden Titel. Anno 1800 ist ein komplexes und optisch beeindruckendes Aufbaustrategiespiel, welches sich auf die Tugenden der Spielreihe besinnt und diese durch sinnvolle Neuerung ergänzt. Ein Must-Play für jeden Genre-Fan!

Was ist Anno 1800? Der siebte Teil der Aufbaustrategiespiel-Reihe Anno, den es in das industrielle Zeitalter des 19. Jahrhunderts verschlägt
Plattformen: PC
Getestet: Version 1.x  auf PC Intel  Core i7, 16GB RAM, NVIDIA GeForce GTX 1050 Ti
Entwickler / Publisher: Blue Byte / Ubisoft
Release: 16. April 2019
Link: Offizielle Webseite

Gesamtwertung: 9.2

Einzelwertungen: Grafik: 10 | Sound: 10 | Handling: 8 | Spieldesign: 8 | Motivation: 10

Passende Beiträge

Planet Coaster 2 im Test

Little Big Adventure – Twinsen’s Quest im Test

LEGO Horizon Adventures im Test