Cyberpunk 2077 im Test

Was ist meine Seele, meine Psyche, mein Ich? Eine Ansammlung meiner Erinnerungen, Empfindungen und den Entscheidungen die ich bisher im Leben traf? Ist sie etwas Spirituelles oder doch nur ein Schwarm aus Daten der darauf wartet auf einen Stick gebrannt zu werden? Ich bin ich! Eine Tatsache, die ich immer für selbstverständlich hielt. Ich lernte erst wie wertvoll diese Selbstverständlichkeit ist, als ich begann sie langsam zu verlieren. Ich bin ich! Zumindest bis zu dem Tag an dem ich sterbe, oder Johnny?

Wer hoch fliegt, fällt tief! Eine Phrase, welche V – Protagonist oder auch Protagonistin in Cyberpunk 2077 – am eigenen Leib zu spüren bekam, als er einen Auftrag für seinen Konzern fundamental versaute. Von seinem Boss in eine Falle gelockt, verlor der aufstrebende Lakai mit einem Schlag alles und fand sich auf den verrotteten Straßen Night Citys wieder. Unter den Fittichen seines besten Freundes, Jackie Welles, lernte V die Regeln der Gosse und konnte sich im Laufe eines Jahres genug Ansehen verdienen, um die Aufmerksamkeit des mächtigen Fixers Dexter DeShawn auf sich zu ziehen. V und Jackie sollen in den Wohnsitz des Erben des mächtigsten Mannes der Welt einbrechen und einen Biochip klauen. Was sich zuerst als große Chance offenbarte, entpuppte sich als Desaster, welches schwere Verluste mit sich bringen sollte. V entscheidet in der Not den Biochip in seinem Kopf zu verstecken. Eine Entscheidung, welche nicht nur Folgen für seinen Körper, sondern auch für alles was er sein Ich nennt hat. V wollte eine Legende in Night City werden, nun trägt er eine in sich: Johnny Silverhand!

Night City – Stadt ohne Hoffnung

Cyberpunk 2077 ist ein Rollenspiel, dass seine Schwerpunkte auf Narrativ und Atmosphäre setzt. Mit Erfolg, denn Night City ist ein Leviathan genährt von Not und Elend seiner Bewohner. Es gibt keinen Zweifel daran, dass in einer Welt die von Konzernen regiert wird, der Mensch nicht mehr als Produkt oder den Endkonsumenten darstellt und keinen Platz für das Glück seiner Bewohner bietet.

Ich habe diese Atmosphäre des Cyberpunks in mich aufgesaugt wie ein Schwamm. Deshalb so gut wie jedes Log gelesen, dass ich in die Finger bekam, jeder Werbung im Fernsehen gelauscht, welche in ihrer sozialkritischen Absurdität sehr an jene aus Paul Verhoevens Robocop erinnern, selbst die Ladebildschirme, von denen es nicht viele gibt, erzählen Geschichten und zeichnen eine Gesellschaft am Rande des Erträglichen.

Night City ist voller Leben und wer die Ohren offen hält und den Bewohnern lauscht, wird merken, dass nicht nur Vs Schicksal von Problemen gezeichnet ist. Einer der berührendsten Momente, den ich für mich erleben durfte, war das Gespräch zwischen einem Vater und seinem Sohn, am Grabe der Mutter. Verzweifelt versuchte das verbliebene Elternteil dem Kind zu erklären, dass die Mutter nun fort und im Himmel sei. Worauf das Kind entgegnete, dass das ja nicht heißen muss, dass er sie nicht mehr sehen kann, denn der Dad eines Schulfreundes sei auch gestorben und er kann immer noch mit ihm reden. Der Sohn spricht dabei ohne vom „Sichere deine Seele“ Programm, einem Verfahren bei dem das Bewusstsein eines Sterbenden auf einen Chip gebrannt wird, zu wissen. Als der Vater dem Kind erklärt, dass sie sich diesen Himmel nicht leisten können, eskaliert das Gespräch auf herzzerreißende Art und Weise.

Ein verhältnismäßig kleiner Moment, im Vergleich zu dem, was sonst noch in Night City passiert, doch vielleicht entwickelte es gerade deswegen so einen Impact für mich, denn ich saß mit Tränen in den Augen vor dem Bildschirm.

Abseits der Pfade

Nachdem ich für meinen Vorabtest die Hauptstory nach ca. 23 Stunden schnell durchgespielt habe. Konnte ich es nicht erwarten den nächsten Durchgang zu starten. Da ich viele Nebenquests auf der Seite liegen gelassen hatte, habe ich vermutlich das dunkelste Ende gesehen, welches Cyberpunk 2077 zu bieten hat.

Die Queststruktur von Cyberpunk 2077 ist anders als noch bei The Witcher 3. So gibt es viele kleinere Missionen, sogenannte Gigs, die ihr von diversen Fixern der Stadt bekommt. Hierbei müsst ihr meist wo eindringen und Personen, Gegenstände oder Daten extrahieren.

Wie ihr dabei vorgeht ist stets eure Sache. Ich habe den Stil des schleichenden Hackers bevorzugt. Das Leveldesign ist dabei sehr clever angelegt und ermöglicht diverse Lösungswege. Ihr steht vor einer Tür, die ihr nicht öffnen könnt? Vielleicht lohnt sich ja der Blick aufs Dach!

Der Abschluss solcher Gigs bringt nicht nur Kohle, sondern auch Erfahrungspunkte und street credibility. Letzteres repräsentiert eure Bekanntheit in der Stadt. Steigt diese, öffnet sich der Zugang zu besseren Wahren bei den Händlern und es werden komplexere Quests freigeschaltet.

Anfangs war ich vielleicht ein wenig enttäuscht, weil ich dachte Cyberpunk 2077 würde nur diese Art von Nebenquests bieten und tatsächlich braucht das Game ein wenig, um sein volles Potenzial zu entfalten. Ihr bekommt im Laufe der Geschichte von so ziemlich jeder größeren Nebenfigur optionale Quest-Reihen, die sich über mehrere Stunden ziehen können und direkte Auswirkungen auf den Ausgang der Hauptgeschichte haben. Diese Missionen sind gut geschrieben und bringen uns die Figuren näher, sodass deren Schicksal an Bedeutung für uns gewinnt.

Pimp my Cyberpunk!

Cyberpunk 2077 bietet einen umfassenden Charaktereditor. Bei meinem zweiten Durchgang wollte ich einen V verkörpern der visuell in die Gang der Voodoo Boys passen würde. Mit goldenen Zähnen, rituellen Narben, Dreads und bedrohlichen Augenimplantaten machte ich mich auf, um Vs Schicksal ein weiteres Mal zu erleben.

Bei aller Liebe zu The Witcher 3 hatte es doch eine erhebliche Schwäche: das rudimentäre Charaktersystem. Hier kann Cyberpunk 2077 voll überzeugen, da es auf dem Regelwerk des Pen and Papers Cyberpunk 2020 von Mike Pondsmith basiert.

Es gibt keine festen Klassen, jedoch fünf Grundattribute: Intelligenz, Coolness, Technische Fähigkeiten, Reflexe und Konstitution. Jede davon unterteilt sich dann noch in mehrere Subkategorien. Bei einem Levelaufstieg erhaltet ihr jeweils einen Skillpunkt für die Haupt- und Unterkategorie. Diese könnt ihr dann flexibel vergeben und euch einen V nach eurem Gusto erschaffen. Mein V zum Beispiel ist ein professioneller Schleicher, aber eine Koryphäe wenn es darum geht Gegner und elektronisches Gerät via Viren zu hacken und zu zerstören.

Gewählte Fähigkeiten lassen sich durch passende Ausrüstung wie Cyberware verstärken. Auch droppen eliminierte Gegner Rüstungen und Waffen. Womit wir bei einer der größten Schwächen von Cyberpunk 2077 wären: dem Lootsystem! Ihr werdet mit Beute zugeschüttet, davon ist das meiste jedoch unbrauchbar, außer man will es zur Rohstoffgewinnung für das Crafting zerlegen. Bedauerlicherweise hat CD Projekt RED auch Kleidung mit Rüstungswerten versehen, was dazu führt, dass V, wenn er die – von den Zahlen her – beste Ausrüstung trägt, aussieht wie Commander Douchebag! Man sieht seinen Charakter selten, aber der Gedanke, dass ich wie ein Vollidiot aussehe, würde mir viel von der Immersion rauben, daher hab ich die Zahlen nur selten berücksichtigt und mir drüber geworfen, was mir optisch gefallen hat.

Während wir V in seinen Fähigkeiten und seinem Equipment frei gestalten können, ist er in seinem Wesen schon ein recht vordefinierter Charakter. Ein Söldner der manchmal nicht davor zurückschreckt brutal zu sein, um das erklärte Ziel zu erreichen, aber im Grunde das Herz am rechten Fleck trägt.

Themen zum Nachdenken

Was mich an Cyberpunk 2077 neben den Gameplayelementen – die einzeln genommen vielleicht nicht die Oberliga ihres Fachs sind, aber als Gesamtpaket sehr viel Spaß machen – am meisten gefesselt hat, waren die mutigen Themen als Basis für spannende Geschichten.

Wir tauchen tief in die Szene der Untergrundpornos ein und erleben die Schrecken virtueller Snuffs am eigenen Leib. Eine der besten Quest – Reihen dreht sich um Vergebung und Religion, kombiniert mit einem wahnsinnigen Kniff der eine intelligente und erschreckende Parallele zu unserem heutigen Reality TV aufbaut. Am meisten überrascht hat mich wie zentral Spiritualität und Esoterik in Cyberpunk 2077 sind. Wir treffen Mönche, welche die kybernetische Verbesserung des Körpers als Frevel an der Natur verstehen und suchen in der Open World nach speziellen Graffitis, die auf den Motiven bekannter Tarotkarten  basieren. Auch die Hauptstory bietet viele dieser Elemente.

Wunderschön, mit Ecken und Kanten

Das viel zitierte Bugfestival blieb bei meiner PC Version zum Glück aus. Zwar hatte auch ich diverse kleinere Bugs, wie fliegende Waffen getöteter Gegner, aber richtige Gamebreaker erlebte ich nicht.

Gespielt habe ich die PC Version auf einer Radeon RX Vega Grafikkarte, einem AMD Ryzen 7 37000X 8-Kern Prozessor  und 16GB RAM Arbeitsspeicher. Auf dieser Hardware konnte ich auf maximalen Grafikeinstellungen und bei einer Auflösung von 2048×1152 eine Framerate zwischen 50 und 60 FPS erreichen.

Zusammenfassung

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