Disintegration im Test

Ein Ego-Shooter mit Echtzeitstrategie-Elementen. Das gab es seit Spielen wie Command & Conquer: Renegade, Battlezone oder Enemy Territory: Quake Wars schon lange nicht mehr. Und verdammt nochmal: Es wurde Zeit, dass man endlich wieder einmal Stratege und Waffenträger gleichermaßen sein darf. Und am besten bitte in Kombination mit einer spannenden Story in einem tiefgründigen Universum. All das bringt Disintegration mit … nur leider muss ich die Freude an dieser Stelle auch gleich wieder dämpfen. Trotz dem erfahrenen Chef und Halo-Miterfinder Marcus Lehto merkt man Disintegration an vielen Stellen an, dass es ein Erstlingswerk eines recht kleinen Studios ist, das sich wohl am Ende doch zu viel vorgenommen hat.

Multitasking

Das Gameplay eines Titels perfekt hinzubekommen ist schon schwer genug, wenn man nur ein einziges Genre bedienen möchte. Will man aber gleich zwei unter einen Hut bekommen, wird die Sache freilich noch ein gutes Stück verzwickter. Disintegration schafft diesen Spagat allerdings sehr gut. Auf einem Gravcycle sitzend – quasi ein schwebender Geschützturm mit Motorrad-Sitz – schwebt man aus der Ego-Sicht durch die Levels und nimmt mit dessen dicken Kanonen (man hat stets eine primäre und eine sekundäre Waffe dabei) die Gegnerscharen aufs Korn. Gleichzeitig aber kommandiert man auch seine Bodentruppen herum, die aus einem bis vier Mitstreitern bestehen. Die Steuerung ist dabei ebenso einfach, wie es die Geschwindigkeit der Gefechte erfordert: Die linke Maustaste feuert die Kanonen ab, die rechte Maustaste gibt kontextsensitive Befehle. Will heißen: Deutet man auf den Boden, wird es ein Bewegungsbefehl. Ein Klick auf einen Gegner ist eine Order zum konzentrierten Angriff und auf wichtige Objekte eine zur Interaktion. Jeder Befehl davon gilt immer fürs gesamte Team. Mikromanagement fällt flach; einzelne Order können nicht gegeben werden. Soweit, so einfach. Der Clou: Auf den unteren beiden der vier Schwierigkeitsgrade ist die RTS-Komponente eigentlich fast vernachlässigbar und man kann Disintegration wie einen mehr oder minder gewöhnlichen Shooter spielen: Das Gravcycle teilt mächtig Schaden aus, die Gegner sind nur durch ihre schiere Zahl bedrohlich und eure KI-Kumpanen können ganz gut auf sich selbst aufpassen. Schaltet man allerdings in einen der beiden höheren Gänge, hat man allein so gut wie keine Chance mehr. Wer hier nicht sein Team stets bestmöglich in Stellung bringt und deren einzelne Sonderfähigkeiten wie Granaten, Zeitverlangsamungs-Felder oder Mörser-Beschuss zur rechten Zeit einsetzt, ist hoffnungslos aufgeschmissen. Adrenalinschübe sind dabei quasi garantiert.

Leider hat die Sache aber auch so seine Haken: Vor allem sorgt die KI eurer Mitstreiter gerne mal für Frust. Leider können diese nämlich einerseits Bewegungsbefehle nicht immer sinnvoll umsetzen und andererseits aufeinanderfolgende Befehle nicht miteinander verbinden. Lasst mich das mit einem Beispiel verdeutlichen: Nehmen wir an, ich will mein Team hinter einer Deckung auf erhöhter Position in Position bringen, um die aus dem Tal anrückenden Feinde bestmöglich in die Zange nehmen zu können. Gibt man nun aber einen Bewegungsbefehl hinter (!) die Deckung, passiert es gerne mal, dass unsere Kollegen vor oder neben besagter Barrikade stehen bleiben. Und wehe, man gibt dann auch noch den Befehl das Feuer auf einen bestimmten Gegner zu konzentrieren. In diesen Fällen stürmen eure Robo-Kollegen in der Regel blindlings auf diesen los und geben dabei nur allzu gerne die gute Position auf, die man ihnen Sekunden zuvor angeordnet hat.

Roboter gegen Roboter …

Apropos Robo-Kollegen: Warum sind hier eigentlich alle Roboter und worum geht es in Disintegration überhaupt? Die Menschheit hat sich im Disintegration-Universum wieder mal an den Rand des Untergangs manövriert. Einen Ausweg bot die Möglichkeit seinen Geist in unsterbliche Roboter-Körper zu transferieren; vulgo „Integration“. Viele taten das, manche weigerten sich und ein paar derer, die es taten, wurden böse … und bekamen rote Augen. Eh klar. Nun gibt es also die Bösen, Reyonne genannt, ein paar Mensch gebliebene und den Widerstand. In der Blechhaut von dem Gravcycle-Pilot Romer Shoal, der am Anfang der Integration wohl noch ein großer Werbestar für den Robo-Transfer war, zieht ihr nun also nach und nach mit einer Hand voll Widerstandskämpfern gegen die Reyonne ins Feld.

Ihr seht: Die Welt von Disintegration und seine Charaktere, auf die ihr im Laufe der Story trefft, wären eigentlich allesamt gut für ein echtes Epos voller Fragen darum, was uns menschlich macht, warum wir kämpfen und so weiter und so fort. Der Haken: Das Team schaffte es nicht, dieses Potenzial auch zu nutzen. Vor allem der Anfang der Kampagne ist in dieser Hinsicht richtig schwach. Das Storytelling hat Lücken, die Missionen wirken zusammenhanglos und die Charaktere und ihre Beziehungen werden nie richtig vorgestellt. Außerdem wirken die Passagen zwischen den Missionen, in denen man in der jeweils gerade aktuellen Basis herumlaufen und mit den Kollegen plaudern kann, ob ihrer Leblosigkeit und der mühsam weiten Strecken, die man teilweise laufen muss, absolut verzichtbar und unnötig. Erst ungefähr ab der zweiten Hälfte der rund acht Stunden langen Kampagne schafft es V1 Interactive dann eine tatsächlich zusammenhängende und spannende Story zu erzählen. Ich würde aber leider jeden verstehen, der nicht so lange durchhält.

Das liegt auch daran, dass einen die ersten paar Missionen selbst nicht unbedingt vom Hocker reißen. Ihr tingelt in streng linearen Levels von Checkpoint zu Checkpoint (das bleibt übrigens die ganze Zeit so), ballert auf die immer gleichen, anonymen Robo-Schergen und lasst das Bodenpersonal noch viel anonymere Gefangene befreien oder Container öffnen, um Teile einzusammeln. Erst nach und nach nimmt das Geschehen Fahrt auf; wirft mit mehr und mehr Gegnertypen nach euch (auch sowas wie Bosse sind dabei) und macht das Geschehen durch neue Facetten wie Stör-Impulse und Co. etwas abwechslungsreicher.

Taktische Detailschwächen

Auch bei den Feinheiten des Gameplays abseits der Schlachten am Feld muss sich V1 Kritik gefallen lassen. Es fehlt Tiefgang. So gibt es zum Beispiel die Möglichkeit nicht nur die eigenen Fähigkeiten mit während der Missionen gesammelten Upgrade-Chips aufzumotzen, sondern auch die eurer Teamkollegen. Bis auf kürzere Cooldown-Zeiten, mehr Health und dergleichen haben diese aber in meinen Augen zu wenig Einfluss. Zudem könnt ihr euch leider nicht aussuchen, welcher eurer Teamkollegen euch auf die Missionen begleiten sollen. Auch beim Tunen, Ausbauen und Anpassen des Gravcycles wurde unglaublich viel Potenzial verschenkt. Man kann nicht mal die Waffen für die Missionen auswählen. Das ist nicht nur schade, sondern hält auch den Wiederspielwert niedrig.

Technik-Makel

Bei der Technik bekleckert sich das Team ebenso nicht wirklich mit Ruhm. Die Unreal Engine wurde tatsächlich schon deutlich besser eingesetzt. Gerade im Vergleich mit dem letzten Gears of War wirkt Disintegration bei Zeiten stark angestaubt: Die Levels sind detailarm, die Texturen etwas zu unscharf, die Charaktermodelle (natürlich auch ob ihrer Robo-Natur) gar kantig und die Effekte nett, aber auch nicht mehr. Dass dann auf meinem Test-System auch noch der Ton in den Zwischensequenzen ständig „out of sync“ war und die Sounds auch nicht sonderlich herausstechen, hilft auch nicht unbedingt dabei den unterdurchschnittlichen Gesamteindruck zu verbessern.

Zum Schluss (#Sandwich-Feedback) darf ich aber auch noch einmal Lobeshymnen anstimmen: Bei Steuerung und Movement merkt man dann doch ein bisschen die Halo-Erfahrung. Will heißen: Hier ist alles „spot-on“. Das Gravcycle lässt sich erstklassig pilotieren, das Treffer-Feedback ist ausgezeichnet und die Tastatur-Belegung narrensicher. So muss das sein.

Multiplayer

Der Mehrspielerpart bietet drei Modi: Collector, Retrieval und Zone Control. Neue Namen für alte Bekannte: Team-Deathmatch, Capture the Flag und Herrschaft. Gespielt wird dabei wenig überraschend immer als Gravcycle-Pilot, der von seinem Team begleitet wird. Dieses könnt ihr euch beliebig aus neun zur Wahl stehenden KI-Kämpfern zusammenstellen. Die ersten Scharmützel, die wir spielen konnten, liefen dabei soweit technisch einwandfrei und waren durchaus spaßig. Zumindest bieten die Schlachten gegen andere Gravcycle-Piloten doch ein ganz anderes Spielgefühlt im Vergleich zu den Kämpfen in der Singleplayer-Kampagne.

Fazit

Der Genremix und das Universum von Disintegration hätten so viel Potenzial gehabt … leider konnte das kleine Studio rund um Marcus Lehto dieses aber nicht vollends ausschöpfen. Weder beim Gameplay und schon gar nicht bei der Story. Am Ende ist Disintegration also ein recht solider Shooter mit Strategie-Elementen geworden, der zwar gerade zum Ende hin durchaus seine Momente hat, aber eben doch an allen Ecken und Enden etwas Feinschliff vermissen lässt. Die Lage also verzwickt: Einerseits kann ich den Titel kaum jemandem ans Herz legen. Wenn überhaupt, dann wirklich nur jenen unter euch, die der über große Strecken gut funktionierende Gameplay-Mix allein schon genug reizt, auf dass sie über die Unzulänglichkeiten bei Inszenierung und Tiefgang hinwegsehen können. Andererseits aber, hoffe ich auf einen Nachfolger, der an Teil Eins anknüpfen und die „wahre Größe“ der Idee erreichen kann … der nicht kommen wird, wenn bei Teil Eins der Erfolg ausbleibt. Hmpf.

Was ist Disintegration? Eine Mischung aus FPS und RTS mit SciFi-Story
Plattformen: PC, XBOX One, PlayStation 4
Getestet: auf PC, Intel Core i7-3300k, 16GB RAM, NVIDIA GTX 980 Ti
Entwickler / Publisher: V1 Interactive, Private Division
Release: 16. Juni 2020
Link: Offizielle Webseite

Gesamtwertung: 5.6

Einzelwertungen: Grafik: 4 | Sound: 6 | Handling: 8 | Spieldesign: 6 | Motivation: 4

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