Filmkritik: Tully

Jason Reitman ist ein etwas ungewöhnlicher Regisseur. Trotz der beachtlichen Erfolge die einige seiner Filme, wie etwa „Juno“ oder „Thank you for smoking“, einfahren konnten, hat er sich nie so richtig von der Hollywood-Mainstream-Maschinerie vereinnahmen lassen. Er kümmert sich weiterhin vorranging um kleine, meist sehr persönliche Stoffe, die zwar an sich ernste Themen behandeln, durch ihre positive Sichtweise aber nie zu Rührstücken verkommen. Und auch sein aktuelles Werk, Tully, schlägt genau in diese Kerbe.

INHALT

Die hochschwangere Marlo, bereits Mutter eines neunmalklugen Mädchens und eines Jungen mit speziellen Bedürfnissen, bekommt von ihrem versnobten Bruder anlässlich der bevorstehenden Geburt eine Night-Nanny spendiert. Die soll sich während der Nächte um das Baby kümmern und damit einfach dafür sorgen, dass die ohnehin schon überforderte Marlo zu ihrem wohlverdienten Schlaf kommt.

Nach der anfänglichen Skepsis, ob sie Hilfe überhaupt annehmen sollte, stellt sie nach der Geburt ihrer Tochter Mia schnell fest, dass sie der Herausforderung alleine nicht gewachsen ist. Denn auch wenn ihr Mann Drew hilft wo er kann, braucht auch der seine Ruhe nach 10 bis 12 Stunden Tagen und regelmäßigen Geschäftsreisen. Tully, die herbeigerufene Nanny, stellt sich schnell als Segen für Marlos Schlaf heraus, doch bewirkt die junge Frau, die sie so sehr an ihr jüngeres Ich erinnert, noch viel mehr in der Mutter, die sich immer weniger sicher ist, ob sie nicht einfach nur Frau sein möchte.

Charlize Theron stars as Marlo in Jason Reitman’s TULLY, a Focus Features release.

KRITIK

Was soll man, als kinderloser Mann, über einen Film sagen, in dem sich alles um die inneren Konflikte einer Frau dreht, die mit sich selbst und ihren Entscheidungen hadert? Entscheidungen, die sie nicht rückgängig machen kann, die sie auch nicht bereut, und sich doch immer wieder die Frage stellt ob es die richtigen waren. Immerhin könnte es ihr schlechter gehen, fiele einem vielleicht ein. Zumindest hat sie einen Mann, der sie und seine Kinder liebt, der sich den Buckel krumm arbeitet um für seine Familie zu sorgen. Sie hat wohlhabende Verwandtschaft, die sie unterstützt. Ja, man ist versucht ihre Probleme abzutun, mit dem ausgelutschten „Es könnte schlimmer sein“. Und freilich, man hätte damit nicht ganz unrecht. Doch damit verfehlt man das Kernthema von Tully meilenweit.

Der Film will uns nicht sagen, dass es auch Mütter, die nicht berufstätig sind schwer haben. Er will uns auch keine Kritik an der immer noch überpräsenten Rollenaufteilung innerhalb von Familien liefern. All das ist offensichtlich zu erkennen, wird aber nie zum Aufhänger für ein sozialpolitisches Statement, sondern ist einfach der Hintergrund für ein sehr persönliches Portrait einer Frau, die in einer tiefen Sinneskrise steckt und ihre ganz eigene Methode entwickelt, diese zu überwinden. Und genau hier liegt die größte Stärke von Tully. Der Film schafft es scheinbar spielend, seinem Publikum verständlich zu machen, was in Marlo vorgeht, wer sie ist, warum sie hadert und was sie beschäftigt. Das ist eine doppelt große Leistung, denn zum einen bewegen sich Charaktere wie ihrer auf einer sehr feinen Linie zwischen Jammerlappen und Supermom, die sich Glaubwürdigkeit nennt. Andererseits ist es nun mal so, dass rund die Hälfte der Weltbevölkerung einen Großteil ihrer Sorgen und Ängste ohnehin nur sehr bedingt nachvollziehen kann…namentlich wir Männer.

(l to r.) Charlize Theron as Marlo and Asher Miles Fallica as Jonah star in Jason Reitman’s TULLY, a Focus Features release.

Und doch ist Marlo so unglaublich nachvollziehbar, als wüssten wir alle ganz genau wie es ihr geht. Das ist natürlich nicht nur dem sehr guten Skript geschuldet, es verlangt außerdem eine verdammt gute Darstellerin. Und die hat sich hier in der wunderbaren Charlize Theron gefunden. Wie auch schon in früheren Rollen, scheut sie sich nicht davor, auch hier wieder aus dem typischen Hollywood-Frauenbild auszubrechen und zeigt mit Marlo eine Frau, die eben nicht wie eine Schauspielerin wirkt, die eine Hausfrau und Mutter spielt. Sie ist verschwitz, ungeschminkt und fertig, kämpft mit Speckröllchen, Augenringen und geschwollen und schmerzenden Brustwarzen vom Stillen. Man kauft ihr jeden Moment dieses Lebens einer Frau, der einfach die Energie ausgeht, ab. Auch die übrige Besetzung macht ihre Sache hervorragend, doch ganz besonders Mackenzie Davis, die die mysteriöse Nanny Tully verkörpert, sticht hervor mit ihrer fast schon unwirklich einnehmenden Art.

Eine Sache die Reitmans Filme gemein haben und die auch hier wieder zutrifft, ist die Schwierigkeit sie in ein Genre einzuordnen. Ganz fachlich sind sie eindeutig, genau wie jetzt auch Tully, als Dramen zu bezeichnen, doch sind sie kaum das, was man sich unter einem Drama vorstellt. Auch in den schwierigsten Momenten bleibt die Grundstimmung immer positiv, ein leichter, feinsinniger Humor immer vorhanden. Reitman will mit seinen Filmen keine Tränen provozieren (auch wenn die ab und an trotzdem fließen), er will Einblicke in seine Charaktere schaffen, ohne damit sein Publikum zu erdrücken oder es zu deprimieren. Und das gelingt ihm auch mit Tully wieder ausgezeichnet. Wenn man dem Film etwas ankreiden kann, ist es die etwas holprige Auflösung. Der Twist am Ende ist sehr vorhersehbar und auch nicht wirklich neu. Das nimmt dem Ganzen natürlich etwas Wirkung, stört aber letztendlich die Grundaussage und vor allem das versöhnliche Ende, nicht.

Die Kamera tut ihren Teil dazu, den Film so persönlich wie möglich wirken zu lassen. Sie bleibt immer nah an den Gesichtern, so müde und fertig sie auch aussehen mögen und verzichtet ganz bewusst auf Wide-Shots, wenn sie nicht einem bestimmten Zweck dienen. Die geerdete und ruhige Musik verstärkt die Niedergeschlagenheit Marlos und hält sich generell eher zurück, was wiederum hilft sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Effekte oder Stunts gibt es in einem Film dieser Art erwartungsgemäß kaum, dafür ist das Set- und Kostüm-Design wunderbar gelungen, weil es echt wirkt. So als ob man unangemeldet einfach in ein beliebiges Einfamilienhaus hineinspaziert und die Bewohner beim Frühstück beobachtet.

Charlize Theron stars as Marlo in Jason Reitman’s TULLY, a Focus Features release.

FAZIT

Ein Frauenfilm, das ist es wohl als was Tully in der Meinung vieler abgetan werden wird. Und ganz falsch ist das nicht, denn mit den Schwierigkeiten und Problemen der von Charlize Theron exzellent dargestellten Marlo kann sich ein Mann sicher nur sehr schwer identifizieren. Und doch handelt der Film im Kern von zutiefst persönlichen Fragen, die wir uns alle stellen und existentiellen Ängsten, denen wir uns alle irgendwann stellen müssen. Ganz ohne ins tragische abzurutschen, oder deprimierend zu werden, schafft er das durch eine leichtfüßige, positive Grundstimmung, die er auch in den schwierigsten Momenten halten kann. Ein paar dramaturgische Macken gegen Ende trüben das Bild ein kleines bisschen, doch schlussendlich bleibt Tully ein feinfühliges Drama, das für jeden den einen oder anderen Denkansatz zu bieten hat.

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