Torment: Tides of Numenera im Test

Um die Jahrtausendwende spezialisierte sich eine US-amerikanische Softwareschmiede auf komplexe sowie aufwendige RPGs und feierte damit große Erfolge. Die Black Isle Studios schufen Spiele die heute zu Recht als zeitlose Klassiker gelten, wie etwa die ersten beiden Fallout Teile, Baldur’s Gate, Icewind Dale sowie das überaus ungewöhnliche Planescape: Torment. Letzteres bekommt nun fast 18 Jahre später, dank einer erfolgreichen Kickstarter-Kampagne, einen geistigen Nachfolger.

„Geistig“ ist hier wirklich wörtlich zu nehmen. Nicht nur die Handlung steht in keinem direkten Zusammenhang zu Planescape: Torment, auch die Welt in der wir uns befinden ist nicht wirklich dieselbe. Während das Original von 1999 auf den Planescape-Szenarien zum Dungeons & Dragons Regelwerk basiert, orientiert sich das aktuelle Spiel an Numenera, einem von der (seit Jahren eingestellten) Planescape-Welt inspirierten Rollenspielwelt. Das alles tut der Freude an der Rückkehr in die abstruse Welt um Maschinen, Geister, Monster und Zeitreisen und allem Wirren aber keinen Abbruch.

Alles steht Kopf

Unser Abenteuer beginnt, indem wir nach einem langen Fall vom Himmel auf der Erde einschlagen und sterben. Wir finden uns im eigenen Gehirn wieder, einem Ort den wir im Verlauf des Spiels des Öfteren aufsuchen werden. Hier legen wir nicht nur unser Geschlecht, Klasse und Anfangs-Skills fest, sondern erfahren auch wer wir sind. Oder besser wer wir waren, denn:

Der sich wandelnde Gott, ein ehemals Sterblicher der einen Weg entdeckt hat dem Tod zu entkommen, nutzt immer neue Wirtskörper um seinen Geist für immer am Leben zu erhalten. Er stellt diese nach seinen aktuellen Bedürfnissen selbst her und benutzt sie solange sie seinen Ansprüchen genügen, um dann in den nächsten zu wechseln. Wir verkörpern einen ebensolchen Castoff (also „Abgelegten“), genauer genommen den letzten. Als solcher haben wir einige außergewöhnliche Fähigkeiten. Eine davon ist eben jene, die es uns nach dem Ableben (und nicht nur ausschließlich dann) ermöglicht, in unser Gehirn zurückzukehren, Erinnerungen nach und nach wiederzuerlangen und wieder ins Reich der Lebenden zurückzureisen. Genau das tun wir, nachdem wir ein paar alten Castoffs (oder besser, Erinnerungen an diese) in unserem Gedankenkonstrukt begegnet sind und uns eines grauenvollen Wesens erwehrt haben, dass sich The Sorrow nennt und der es auf den wandelnden Gott und seine „Abgelegten“ abgesehen hat.

Gestrandet in einer, uns bis auf ein paar Erinnerungsfetzen unbekannten Welt, erwachen wir am Rande einer weitläufigen Stadt voller Mysterien und Wunder und beginnen unsere Suche nach unserem Schöpfer und der Flucht vor The Sorrow.

Wenn Rollenspiel von Rolle spielen kommt

Spielerisch fühlt man sich in Torment: Tides of Numenera sofort zwei Jahrzehnte in die Vergangenheit zurückversetzt. Dargestellt wird das Geschehen, wie damals schon üblich, aus der Iso-Perspektive (also von schräg oben). Per Mausklick bewegt sich unser Castoff durch die mitunter mehrere Bildschirme großen Gebiete und interagiert mit NPCs, Gegenständen oder Gerätschaften. Hierfür öffnet sich ein Dialogfenster in dem wir dann per Multiple-Choice-Verfahren unsere Aktionen bzw. Kommentare auswählen. Gegebenenfalls können wir auch Items aus dem Inventar oder Skills anwenden.

In diesen Dialogfenstern wird man wohl auch den größten Teil seiner Spielzeit verbringen. Zum einen haben wir es hier mit einem generell äußerst textlastigen Game zu tun. Ob Person, Monster, Gerät oder Gegenstand, alles wird haargenau und detailverliebt beschrieben und dann auf Wunsch sogar noch etwas genauer unter die Lupe genommen. Zum anderen liegt der Fokus eindeutig (wie auch schon im Original) nicht in den Kämpfen, sondern den Dialogen. Diese können, je nach Begegnung und gegebenen Antworten, unglaublich ausufern und in vielen Fällen den Spielverlauf entscheidend beeinflussen. Ein Großteil der Neben-Quests lassen sich allein durch Gespräche lösen und den allermeisten Kämpfen kann man sogar durch Überzeugungskraft entgehen.

Die sogenannten Tides verfeinern unsere Interaktionen sowie unseren Einfluss auf die Spielwelt noch weiter. Hierbei handelt es sich um so etwas wie Gesinnungsrichtungen, fünf an der Zahl. Diese werden durch Farben dargestellt, so etwa rot für Emotionalität und Passion, lila für Gerechtigkeit und Gleichheit, oder blau für Einsicht und Weisheit. Wir können uns aber nicht bewusst für eine dieser Richtungen entscheiden, das macht das Spiel, abhängig von den Entscheidungen die wir treffen selbstständig. Das hat nicht nur Einfluss darauf wie Welt um uns herum auf uns reagiert, es gibt sogar Fähigkeiten und Gegenstände die mit Bonuseffekten aufwarten, wenn man die „richtige“ Einstellung hat.

Klassisch und doch anders

Im Charaktermenü geht es dagegen, eher untypisch für ein Rollenspiel dieser Art, eher simpel zu. Die drei Klassen, also Glaive (Krieger), Nano (Magier) und Jack (Schurke), unterscheiden sich in erster Linie durch ihre Startwerte und Fähigkeiten, lassen sich aber im weiteren Spielverlauf ganz nach Belieben weiterentwickeln. Die Charakter-Level sind hier in vier Teile unterteilt. Immer wenn der Erfahrungsbalken voll ist, bekommt man einen Entwicklungspunkt, den man in einen der vier Bereiche investieren kann, zum Beispiel Fähigkeiten verbessern oder neue lernen. Sobald man in einen Bereich investiert hat, ist dieser gesperrt bis man das nächste volle Level erreicht hat.

Eine Besonderheit sind die lediglich drei vorhandenen Grundwerte Kraft, Geschwindigkeit und Intellekt. Diese werden hier wie Ressourcen-Pools verwendet: Abhängig von der jeweiligen Situation in der man sich befindet (also zum Beispiel Kraft oder Geschwindigkeit bei der Benutzung von Kampffertigkeiten oder Intellekt in Gesprächen, um etwa jemanden zu etwas zu überreden), hat man die Möglichkeit zusätzliche Punkte des Wertes zu bezahlen, um die Erfolgschancen zu erhöhen. Jeder investierte Punkt erhört die Chance zum Erfolg um 20%. Das mag jetzt so klingen als könnte man sich damit das Spiel sehr leicht machen, trotzdem sollte man mit seinen Werte-Pools sehr genau haushalten, denn diese regenerieren sich nur durch Schlafen. Und das kostet nicht nur Geld, es treibt auch den Spielverlauf weiter. Wer sich also nach jedem dritten Gespräch aufs Ohr legt, wird schnell mit bösen Überraschungen, wie aufgrund zu langem Hinwartens fehlgeschlagenen Quests, geweckt werden.

Schöne, simple Welt

InExile, der Entwickler hinter Torment: Tides of Numenera, benutzt hier die von Obsidian Entertainment für „Pillars of Eternity“ angepasste und erweiterte Unity-Engine. Die sorgt für wundervoll detaillierte und plastisch wirkende Hintergründe, mit denen die recht mager gezeichneten und animierten Charaktere kaum mithalten können. Dafür läuft das ganze absolut flüssig und die Ladezeiten sind kaum erwähnenswert. Das selbe muss leider auch über die Sprachausgabe gesagt werden. Zum einen gibt es gesprochenen Text nur, wenn man das erste Mal auf wichtige Charaktere trifft oder als Quittierung von Befehlseingaben (welche wiederum sehr schnell nerven) und zum anderen sind diese paar Momente kaum von nennenswerter Qualität.

Die Musik hält sich sehr im Hintergrund, zumindest im regulären Spielverlauf. Nur in wichtigen Story-Momenten wird sie laut und drängend, was, trotz der an sich guten Qualität des Soundtracks, aber auch manchmal irritieren kann. Vor allem wenn man grade versucht die ellenlangen Texte zu lesen und seine Optionen abwiegt, um nur ja keine falsche Entscheidung zu treffen. Das kann viele Minuten dauern, während die Musik eindeutig für einen kleinen, epischen Moment ausgelegt ist und dann episch vor sich hin loopt.

Fazit

Tides of Numenera ist ein schwerer Fall. Trotz der vielen Arbeit und Liebe, die hier ganz offensichtlich investiert wurde und obwohl eigentlich keinen gravierenden Mängeln auftreten, kann das Spiel dem Original von 1999 nicht das Wasser reichen. Das liegt zum einen am über weite Strecken fehlenden beißenden, schwarzen Humor von damals. Zum anderen wird man an so mancher Stelle den Eindruck nicht los, dass die Dinge hier einfach nur abstrus als Selbstzweck, nicht um der Handlung Willen dienen. Trotzdem bleibt unterm Strich ein wunderbar spielbares (und auch spielenswertes), klassisches RPG, für Leute die keine Angst vor vielen geschriebenen Worten haben.

Gesamtwertung: 7.6

Einzelwertungen: Grafik: 8 | Sound: 6 | Handling: 8 | Spieldesign: 10 | Motivation: 6

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