Der ewige Kampf Gut gegen Böse – das banale Standardszenario für viele Rollenspiele. Tyranny ist da anders, denn im neuen Spiel der Pillars of Eternity Entwickler Obsidian Entertainment ist diese Auseinandersetzung bereits entschieden. Die Streitkräfte des Bösen, unter der Führung des Overlords Kyros, haben gesiegt. Aber gibt es in einer solchen Welt einen strahlenden Helden, der das Blatt wenden kann? Nein, nicht wirklich.
Also was macht man in einer Fantasy-Welt wenn deren Schicksal scheinbar schon besiegelt ist. Ganz einfach, man schlüpft in die Rolle eines Handlangers des Overlords und versucht in seinem Auftrag die Rebellion eines aufsässigen Volkes im Westen des Landes niederzuschlagen. Als Schicksalsbinder, quasi ein Ankläger, Richter und Henker in Personalunion, sollt ihr Kyros Edikt verkünden – einen Zauberspruch mit dem der dunkle Herrscher ganze Landstriche verwüsten kann.
Bevor es aber mit der eigentlichen Geschichte richtig los geht, dürfen wir in einem Prolog die letzten drei Jahre der Eroberung der Welt von Terratus durch Kyros noch einmal miterleben. In dieser Einführung werden wir mittels Multiple-Choice Anworten zu einigen weitreichenden Entscheidungen gezwungen. Kämpfen wir etwa auf der Seite der disziplinierten und traditionsorientierten „Legion der Geschmähten“ oder doch lieber in den Reihen des chaotisch-anarchistischen „scharlachroten Ordens“, der seine besiegten Gegner zwangsrekrutiert und dadurch zahlenmäßig überlegen ist? Nur sehr selten sind die Auswirkungen aber so greifbar wie bei der Wahl der Fraktion. Gut oder Böse existiert in Tyranny grundsätzlich nicht, vielmehr fällt die Entscheidung zwischen Böse oder etwas weniger Böse. Exekutiere ich alle Kriegsgefangenen gleich an Ort und Stelle oder lasse ich sie in der nächsten Schlacht als Kanonenfutter für mich kämpfen? Brenne ich ein Dorf nieder oder versklave ich nur die Bevölkerung? Einige dieser Entscheidungen haben gleich unmittelbare Folgen, beispielsweise indem wir Zaubersprüche erlernen, andere merken wir erst sehr viel später im Spiel. Der grundsätzliche Ablauf der in insgesamt drei Akten unterteilten Story ändert sich zwar nur marginal, einzelne Charaktere nehmen aber während den Gesprächen immer wieder Bezug auf die Geschehnisse während der Eroberung und reagieren dementsprechend. Dadurch verändert sich auch die Geschichte bei jedem Durchlauf immer wieder aufs Neue.
Archetypen und taktische Echtzeitkämpfe
Rollenspieltypisch steht aber zu Beginn die Erstellung des eigenen Charakters auf dem Programm. In Tyranny gibt es keine Klassen, sondern man darf aus acht Archetypen auswählen. Vom Gruben-Kämpfer, über den Jäger bis hin zum Kampfmagier werden dabei sämtliche gängigen Gruppierungen abgebildet. Diese Einteilung soll aber eher nur als eine grobe Richtlinie dienen, denn grundsätzlich kann jeder Charakter jede Waffe wie Zweihänder, Stab, Schwert und Schild oder Pfeil und Bogen benutzen – die entsprechenden Attribut- und Skillpunkte vorausgesetzt. Auch diese Werte wirken sich auf den Verlauf der Geschichte aus, denn ist eine Fähigkeit nicht entsprechend ausgebaut, bleiben einem so manche Optionsmöglichkeiten im Spiel verwehrt. Das Aufleveln des Charakters erfolgt dagegen wieder genretypisch. Mit gewonnen Erfahrungspunkten erklimmt man Stufen, kann pro Aufstieg einen Punkt auf die sechs Attributen vergeben und mit einem weiteren Zähler einen Skill im Talentbaum freischalten. Zusätzlich können neue Zauber auch mittels Crafting hergestellt werden.
Auch die insgesamt sechs potentiellen Gefährten die wir im Verlauf der Geschichte treffen und aus denen ihr eure vierköpfige Heldengruppe bildet, verfügen über indiviuelle Fähikgeiten und können entsprechend geskillt sowie ausgerüstet werden. Besonders interessant ist dabei die Möglichkeit, dass der eigene Charakter mit jedem der Begleiter bestimmte Kombos ausführen kann, die dann einen entsprechend höheren Schaden anrichten. Außerdem wirken sich unsere Taten sowie die Dialoge auch auf den Respekt der Mitstreiter aus. Ist die Anerkennung hoch genug, werden dadurch zusätzliche und mächtigere Kombos freigeschalten. Die an sich in Echtzeit ausgetragenen Kämpfe lassen sich dabei jederzeit pausieren. Das nimmt sehr viel Hektik aus dem Spiel und ermöglicht ausgeklügeltere Taktiken. Die KI der eigenen Gruppenmitglieder ist zwar grundsätzlich ganz passabel, das eigenhändige Erteilen von Befehlen ist aber meist die bessere Vorgehensweise.
Kleine, abwechslungsarme Spielewelt
Fans von epischen Abenteuern sowie riesigen Spielewelten werden von Tyranny sicherlich enttäuscht werden. Die erkundbaren Areale sind verhältnismäßig klein, folgt man lediglich der Hauptquest und vernachlässigt die zahlreichen Nebenmissionen, ist man nach gut 20 Stunden auch schon wieder am Ende angelangt. Gleichermaßen fehlt es der Welt von Terratus (zumindest den Schauplätzen die unser Charakter besuchen darf) auch optisch etwas an Abwechslung. Dass das besser geht, hat Entwickler Obsidian Entertainment schon bei Pillars of Eternity gezeigt, welches genauso wie Tyranny auch mit dem Unity-Framework umgesetzt wurde. Sprachausgabe gibt es nur in Englisch, dafür wurden sämtliche Texte in das Deutsche übersetzt. All jene die diesbezüglich schlechte Erfahrung mit Spielen aus dem Hause Paradox Interactive haben, müssen sich aber keine Sorgen machen. Anders als in der Vergangenheit ist die deutsche Übersetzung sehr gut gelungen und bis auf gelegentliche Ausrutscher fehlerfrei. Das war aber auch dringend notwendig, denn die Geschichte von Tyranny lebt hauptsächlich vom geschriebenen Wort. Wer bislang immer die Text-Dialoge weggeklickt hat, um in der Story weiter voran zu kommen, der sollte einen richtig großen Bogen um das Spiel machen.
FAZIT
Ich finde es sehr befriedigend, wenn ich das Ende eines Spiels erreicht habe, deshalb mag ich auch Tyranny. Hinsichtlich Umfang kann es nämlich nicht mit Spielen wie Pillars of Eternity oder Baldurs Gate mithalten, das macht es aber mit seinen enormen Entscheidungsfreiheiten locker wieder wett. Die damit verbundenen, nachvollziehbaren Konsequenzen verändern mit jedem Durchgang den weiteren Spielverlauf und erhöhen den Wiederspielwert beträchtlich. Das finde ich weitaus besser, als ein einzelne überlange Geschichte, in die man teilweise bis zu hundert Stunden investieren muss. Die Story als Scherge des Bösen ist außergewöhnlich und vor allem sehr spannend, erfordert vom Spieler jedoch die volle Aufmerksamkeit und die Bereitschaft die unzähligen Textfenster nicht einfach wegzuklicken. Und auch wenn mir persönlich das rundenbasierte, gemächlichere Kampfsystem eines Divinity: Original Sins besser gefällt, die taktisch anspruchsvollen Scharmützel inklusive Gruppen- und Charaktermanagement stellen selbst für erfahrene Spieler eine Herausforderung dar. Bei mir wird Tyranny definitiv noch eine Weile auf der Festplatte bleiben – ich will im nächsten Durchgang unbedingt wissen, wie abgrundtief böse ich noch werden kann…
Gesamtwertung: 8.0
Einzelwertungen: Grafik: 6 | Sound: 8 | Handling: 8 | Spieldesign: 10 | Motivation: 8